Linear A ist entziffert – die Sprache ist griechisch

Eine Zusammenfassung von Karl-Heinz Lewin


Einem ukrainischen Sprachwissenschaftler ist eine kleine Sensation gelungen – die Entzifferung von Linear A unter der Annahme, dass es sich wie bei Linear B um griechische Texte handle.

Der Sprachforscher Iurii Mosenkis

Iurii Leonidowitsch Mosenkis ist Professor am Institut für Philologie der Universität Kiew, in der Abteilung für Ukrainische Sprache und angewandte Linguistik. Sein wissenschaftliches Interesse gilt insbesondere der Evolution von Sprachen und der vergleichenden Sprachwissenschaft. [unikiewmi]

Er hat in den letzten Jahren mehr als 260 Beiträge von Notizen über ausgearbeitete Dokumente bis hin zu einem Buch auf der Webseite von Academia.edu publiziert (bis auf das Buch [MI 2016] leider sämtlich ohne Jahresangabe). Zu den Sprachen, die er untersuchte und teilweise miteinander verglich, zählen Ukrainisch, die slawischen und baltoslawischen Sprachen, (Alt-) Griechisch, Pelasgisch, Phrygisch, Proto-Arisch, Italisch, Umbrisch, Alt-Irisch, Keltisch, Proto-Indo-europäisch, Georgisch / Kartvelisch, Daghestanisch, Hurro-Urartäisch, Sumerisch, Hattisch, Kassitisch, Guanche, Baskisch, Etruskisch, Burushaski, Dravidisch, Altaisch, Uralisch, Jenisseisch, Ainu. Daneben richtete sich sein Interesse auf die Archäologie insbesondere der Cucuteni-Tripolje-Kultur, Genetik als Mittel zur Bestimmung von Abstammungslinien, die Ursprünge von Märchen und Mythen, sowie die Astronomie als Mittel zur retrokalkulierten chronologischen Einordnung von Ereignissen.

Bemerkungen zu den Linearschriften Kretas

Die kretischen Hieroglyphen wurden von den ägyptischen Hieroglyphen beeinflusst. Arthur Evans zeigte klare Beweise für den ägyptischen Ursprung mehrerer kretischer Hieroglyphenzeichen, und Wladimir Iwanow Georgiew identifizierte Spuren ihrer Übersetzung vom Ägyptischen ins Griechische. Das Fehlen der l/r-Unterscheidung in Linear A und B ist ein typisches Merkmal der ägyptischen Schrift [MI e, 9].

Die beiden Linearschriften sind im Unterschied zur kretischen Hieroglyphenschrift Silbenschriften, ergänzt um Zahlzeichen und mehr (Linear A) oder weniger (Linear B) zusätzliche Wortzeichen. Es gibt nur offene Silben, mit denen sich Wörter der Form KVKV und längere bilden lassen (K = Konsonant, V = Vokal). Solche Wörter sind in den alt­makedonischen, luwischen, akkadischen und drawidischen Sprachen sowie in einem präsumerischen Substrat zu finden [MI e, 9]. Semitische Sprachen wie Arabisch und Hebräisch haben häufige Wörter in den Formen KVKVK und VKKVK. Die altgriechische Sprache ist dagegen gekennzeichnet durch häufige Mehrfachkonsonanten (wie die deutsche Sprache). Bekanntestes Besipiel ist das griechische Wort ανθροπος / anthropos, das in Linear B als a-to-ro-po angenähert wiedergegeben wurde.

Die Unterscheidung zwischen stimmhaften, stimmlosen und behauchten Verschlusslauten kann in der Schrift in der Regel nicht wiedergegeben werden (KA/KHA/GA werden mit ka geschrieben und PA/PHA/BA mit pa). Nur für den stimmhaften Dental D gibt es eine eigene Reihe von Silbenzeichen, so dass man DA mit da und TA/THA mit ta schreibt.[wiki → Linearschrift B, Schreibregeln] Diese Unterscheidung ist typisch für die indo-europäischen Sprachen, also auch für die altgriechische, aber auch für die semitischen Sprachen, das Fehlen dieser Unterscheidung findet sich dagegen in den hurritisch-urartäischen Sprachen und den mit diesen vielleicht verwandten oder zumindest von diesen beeinflussten eteozyprischen und zyprisch-minoischen Sprachen [MI e, 9/10].

Daher sind die kretischen Linearschriften denkbar ungeeignet für die Wiedergabe einer indoeuropäischen Sprache wie der altgriechischen, aber kaum weniger geeignet für die Wiedergabe einer vermuteten semitischen Sprache.

Eine besondere Schwierigkeit liegt auch darin, zwischen phonetischen Eigenheiten des „Minoischen Dialekts“ welcher Sprache auch immer und die durch den vorhandenen Silbenvorrat erzwungenen orthographischen Regeln von Linear A/B zu unterscheiden [MI a, 6]. So fehlt das in der klassischen zypriotischen Silbenschrift häufige abschließende ‚-se‘ in Linear B (obwohl ein Silbenzeichen se existiert). Dies galt als „Argument“ gegen die griechische Sprache von Linear B. Das abschließende -o, das in Linear B typisch ist, fehlt wiederum in Linear A – was nun als „Argument“ gegen die griechische Sprache von Linear A gilt [MI a, 5].

Überdies sind die Silbenvorräte nicht vollständig – es kommen nicht alle Kombinationen der Konsonanten d j k r m n p q r s t w z mit den Vokalen a e i o u vor. In Linear B fehlen (bislang?) ein paar wenige Silben auf -i und -u, in Linear A sind die Silben auf –e und insbesondere –o unvollständig – es fehlen do, jo, mo, no, qo, so, wo [MI a, 6].

Die Sprache von Linear A – die Hypothesen

Evans betrachtete die minoische und die mykenische Zivilisation beide als nicht-griechisch, obwohl er ein griechisches Wort in Linear B gelesen hatte: Unter Verwendung der klassischen zypriotischen Silbenschrift liest der Gelehrte das Wort po-lo = πῶλος / pōlos, „Fohlen“, das in der Nähe von Pferdebildern auf einer Linear B-Tafel geschrieben wurde. Michael Ventris’ Entzifferung bestätigte die Hypothese von Paul Kretschmer, S. Luria und W. Georgiew, dass Linear B (15.-13. Jahrhundert v. Chr.) – und damit die mykenische Kultur – griechisch sei, während frühere kretische Hieroglyphen, der Diskos von Phaistos, Linear A und spätere eteokretische Inschriften als nicht entziffert gelten. [MI b, 1; MI e, 18]

Bereits 1950, zwei Jahre vor der Veröffentlichung der Entzifferung von Linear B, aber vielleicht in Kenntnis von Ventris’ Arbeit, hatte Georgiew seine durch mehrere Wortgleichungen gestützte Vermutung veröffentlicht, Linear A repräsentiere die griechische Sprache oder einen griechischen Dialekt [Georgiew; zitiert nach MI e, 19]. Insbesondere wegen der durchgehenden offenen Silben und der fehlenden Unterscheidungen b/p/ph, g/k/kh und t/th (s.o.) suchten andere Forscher nach Wörtern aus anderen Sprachen und fanden semitische und luwische Wörter. Zum Hauptbefürworter der Hypothese, die Sprache von Linear A sei eine semitische, wurde Cyrus Herzl Gordon [Gordon 1957, 1958, 1960; zitiert nach MI e, 10], obwohl auch in den semitischen Sprachen geschlossene Silben überwiegen und die Unterscheidung der drei Klassen von Verschlusslauten häufig bedeutungstragend ist. Die hethitisch-luwische Hypothese vertrat als erster Leonard Robert Palmer [MI a, 1]. Das Argument, die inzwischen als griechisch gelesenen Wörter seien wohl Lehnwörter, könnte die als semitisch gelesenen ebenso wie auch die als luwisch gelesenen Wörter ebenso treffen.

In der Folgezeit fehlte es nicht an Versuchen, in Linear A entweder weitere semitische oder luwische oder griechische Wörter zu finden. Maurice Pope schrieb dazu 1958: „Es wäre nicht überraschend, wenn das Minoische einige semitische Wörter enthalten würde. Das bronzezeitliche Kreta gehörte der gleichen Kultur an wie der heutige Nahe Osten. Es ist natürlich, dass technische Begriffe der Buchhaltung und von Handelsartikeln wie Töpfen entlehnt wurden.“ [Pope, 23; Ü. DeepL; zitiert in MI b, 6] Er hielt es für denkbar, dass „Minoisch“ eine semitische Sprache sei, aber ein Nachweis sei „noch“ in weiter Ferne – das „eindeutigste Beweisstück“ sei die Legende, Minos sei ein Enkel des Phoinix, des Königs von Tyrus [Pope, 23]. Dagegen war für ihn sicher: „Das einzige minoische Wort, dessen Bedeutung sicher bekannt ist, ist ku-ro oder ku-lo – «gesamt». Es besteht kein Zweifel, dass dies semitisch sein könnte (Akkadisch kalu, kullatu; hebräisch kôl; usw.).“ [Pope, 21; Ü. DeepL; zitiert in MI b, 6 u. MI e, 22]

Auch Verwandschaften mit Sprachen wie Abchasisch-Adyghisch, Etruskisch, Hurritisch, Indo-Iranisch und Lykisch sowie ein verlorener Zweig des Indoeuropäischen und eine unbekannte Sprachfamilie wurden erörtert, fanden aber keine Anerkennung [MI a, 1/2].

Starke Argumente für eine griechische Sprache fand Gregory Nagy, der viele in Linear A und Linear B gleich oder fast gleich geschriebene Ortsnamen und andere Wörter identifizierte und die griechische Wortliste in Linear A beträchtlich erweiterte [Nagy 1963, 1965; zitiert nach MI e, 20]. Nagy identifizierte die Linear A-Wörter pa-i-to = Linear B pa-i-to = Φαιστός / Phaistos, Linear A qe-tu = Linear B qe-to = πίθοι / pithoi, Linear A i-ta-nu = Linear B u-ta-no = Ἴτανος / Itanos (kretische Stadt), i-ja-te = ιατηρ / iatēr, „Arzt“, ki-ro = χρέος, χρή / chreos, chrē, „Schulden“, „Bedürfnis“, ka-pa = καρποι / karpoi, „Früchte“, ma-ka-ri-te = Μακαρίτης / Makarítēs, „die Seligen“, ka = καί / kaí, „und“, Linear A wo-no = Linear B wo-no = (ϝ)οῖνος / (w)oinos, „Wein“, die Suffixe Linear A -qe = Linear B -qe = -τε / -te (= lat. -que) und morphologische Elemente wie in der Gegenüberstellung von „Linear A su-ki-ri-ta = Linear B su-ki-ri-ta = Σύβριτα / Sygrita“ (kretische Stadt) zu Linear A „su-ki-ri-te-i-ja ≈ Linear B su-ki-ri-ta-jo = Sugritajos“ (ethnische Zuordnung, etwa „Bewohner von Sygrita“) [ebd.; MI b, 3/4]. Zu letzterem Beispiel existieren zahlreiche Entsprechungen in Linear B [MI e, 25].

Warum die Stimme von G. Nagy nicht gehört wurde - das ist für mich [Mosenkis] ein Rätsel. Im Gegensatz dazu wurde die Stimme von M. Ventris [Linear A sei nicht griechisch] sehr schnell gehört, obwohl seine griechische Lesart von Linear B im Gegensatz zu einer Tradition aus einem halben Jahrhundert stand.[MI e, 21, Ü DeepL; MI b, 4]

Stattdessen „läsen“ viele weitere „Entzifferer“ einzelne Wörter auf Vasen und „fänden“ sie in akkadischen, lykischen oder luwischen Texten, aber daraus lasse sich nicht die Zugehörigkeit von Linear A zur jeweiligen Sprache nachweisen (John Chadwick laut Jean-Pierre Olivier) [MI e, 22].

Methoden zur Entscheidung zwischen denkbaren Lösungen

Statistische Methode: Wie oft kommen ausgewählte Silbengruppen in der zu entziffernden Schrift vor, und welche Silbengruppen findet man mit entsprechenden Häufigkeiten in den zur Auswahl stehenden Zielsprachen? [MI a, 2]: Alice Kober und Michael Ventris nutzten Statistik zur Entzifferung von Linear B. Der vorliegende Korpus von Inschriften in Linear A ist aber so gering, geschätzt etwa sechs bis sieben Buchseiten, dass man mit Statistik nicht weit kommt, obwohl signifikante statistische Beobachtungen veröffentlich wurden.

Kombinatorische Methode: Wenn Wörter oder Wortformen häufig zusammen auftreten und dabei Abwandlungen (Affixe, hier meist Suffixe) aufweisen, wie lassen diese sich mit den entsprechenden Formen in einer der Zielsprachen verbinden? Lassen sich daraus ggf. häufige Wortzusammenstellungen oder Wortgegenüberstellungen oder morphologische Elemente erschließen? Diese Methode führt hier weiter [MI a, 2/3]:

Beispiel 1: Die Wörter ku-ro und ki-ro wurden mehrfach im Zusammenhang gefunden und als „Summe“ und „Schulden“ identifiziert. Sie ähneln sehr zwei griechischen Wörtern, κόρος / kóros, „Sättigung, Überdruss“ und χρέος / chréos, „Schulden“. Entsprechend passt dann ku-ra zu κυρία / kyría, „Autorität, Macht“ und κύρια / kýria, „die Mächtige“ (fem.).

Beispiel 2: Das Wort po-to-ku-ro scheint mit ku-ro zusammen zu hängen. Georgiew verglich 1958 den vorderen Teil mit Tocharisch A, B ponto, „alles“, aber παντακύριος / pantakýrios, „alles überragend“ ist eine viel nähere Entsprechung. Daraus ergibt sich Linear A po-to-ku-ro = „alles zusammen, Gesamtsumme“.

Beispiel 3: Mit dieser Methode wurden einige morphologische Elemente in Linear A erkannt: die Unterscheidung i-ja-te „Arzt“ und i-ja-ma „Medizin“, das Bindewort -qe (entsprechend lat. -que), das feminine Adjektivsuffix -ja, die Dativ-Endung -si, das mediopassive Partizip-Suffix -men; weitere Beispiele s.u.

Quasi-bilinguale Methoden: Ein Wort auf einem Gegenstand kann diesen oder eine seiner Eigenschaften bezeichnen [MI a, 3]: tu-nu auf einer Axt könnte θύνω / thýnō, „eilen“ bedeuten, da-ku auf einer anderen Axt θάγω / thagō, „schärfen, schleifen“ oder θηγός / thēgos, „scharf“, e-si-ja auf einer Lampe ἑστία / hestía, „Herd“, u-na-a auf einem Pithos-ähnlichen Gefäß *οἰναία (erschlossen) / oinaia, „Weingefäß“.


Auch kretische Eigennamen aus Linear B und alphabetischem Griechisch können hier Hinweise geben (so wie Eigennamen die ersten identifizierten Wörter in den ägyptischen Hieroglyphen oder in Linear B waren) [MI a, 3/4]:

Linear A

Linear B

Modern

ka-nu-ti

ko-no-si

Knossos

pa-i-to

pa-i-to

Phaistos

da-ri-da

ti-ri-to

Tritos


Etymologische Methode: [MI a, 5]: Diese hatte einen schlechten Ruf unter Kritikern der Entzifferungsversuche, konnte aber einige wichtige Informationen liefern, beispielsweise: Linear A ma-te-re = Linear B ma-te-re = ματρηι / matrēi, „der Mutter“ (Dativ); Linear A da-ma-te = Δαμάτηρ, Demeter, laut Homer aus Kreta stammend; Linear A a-ra-u-da, Linear B e-re-u-ti-ja, dorisch Ἐλεύθυια / Eleúthyia, alt-gr. Εἰλείθυια / Eíleíthyia, „die [zu Hilfe] Kommende“, die Göttin der Geburt [wiki Eileithyia], bekannt aus der Odyssee und von Pausanias, die in der Eleuthyia-Höhle bei Amnissos auf Kreta besonders verehrt wurde.

Weitere Indizien für die griechische Sprache der minoischen Kultur

Das Ungeheuer Skylla (Σκύλλη) wird von minoischen Malern mit Hundekopf dargestellt und erinnert damit an das griechische Wort für „Welpe“, σκύλαξ / skylax (Abb. 1) [MI e, 45]. Minoische Abbildungen von Knoten erinnerten an das Ägyptische Lebenszeichen Ankh, dessen Name dem griechischen Wort ἄγχω / ángkho („drücken“) ähnele (Abb. 2) [ebd.]. Das davon abgeleitete Silbenzeichen hat den Lautwert za, entsprechend dem griechischen Wort ζαω / zaô („leben“) [MI e, 50]. Das minoische Kalenderbild enthielt die Zeichen für Sonnenwenden und Tagundnachtgleichen (τροπή / tropē, „Wende“), die als Schiffe dargestellt wurden (τροπίς / tropís, „Kiel“ und „Schiff“) und so die griechische Homonymie widerspiegelten (Abb. 3) [MI e, 46]. Folgerung: Minoische Maler sprachen griechisch [MI e, 45, Titel des Abschnitts], und sie kannten auch zumindest einzelne ägyptische Begriffe und ihre ägyptischen Bezeichnungen.

Abb. 1 [MI e, 46, Fig. 1]

Abb. 2 [MI e, 46, Fig. 2]

Abb. 3 [MI e, 46, Fig. 3]


Mit ki-ro = χρέος, χρή / chreos, chrē, „Schulden“ (s.o.) und ku-ro / ku-ra („Summe“) = κυριός / kyriós („ganz“, „vollständig“) bzw. κυρία / kyría („Besitz“) werden zwei zentrale Begriffe aus Rechnungswesen und Verwaltung durch griechische Wörter repräsentiert [MI e, 59/60]. Ausgerechnet ein Wort, das Pope seinerzeit als semitisch wertete (s.o.), dient Mosenkis jetzt als wichtiges Indiz für die griechische Sprache von Linear A! Als weiteres gewichtiges Wort gilt ma-te für „Mutter“, während die anatolischen Sprachen (Hethitisch, Luwisch) hierfür anna haben [MI b, 5], die semitischen umm oder ēm oder Ähnliches.

Die kretische Hieroglyphenschrift besteht nicht nur aus Logogrammen, sondern enthält auch phonetische (Silben-) Zeichen [MI e, 46]. Viele davon können dank ihrer Ähnlichkeiten mit Zeichen der beiden Linearschriften „gelesen“ werden; die Lesungen legen nahe, dass sie einen griechischen Dialekt repräsentieren, wobei manche Wörter Ähnlichkeiten mit phrygischen Lautungen haben [MI e, 46-52]. Einige Silbenzeichen der kretischen Hieroglyphen wie der Linearschriften scheinen Abkürzungen auf die erste Silbe der griechischen Bezeichnungen der abgebildeten Gegenstände zu sein, etwa za von ζαω (s.o.); die kretische Hieroglyphe PFLUG als Urbild des Linear A/B-Silbenzeichens u entspricht der Anfangssilbe von ὕνις / hynis („Pflugschar“); die ägyptischen Hieroglyphe kebeh, „Krug“, ähnelt dem Silbenzeichen ki, der Anfangssilbe von gr. kissubion, die ägyptischen Hieroglyphe aha, „Palast“, ähnelt dem Silbenzeichen wa, der Anfangssilbe von gr. wanakterion [MI e, 48-50, 54].

Daher können manche kretische Hieroglypheninschriften griechisch gelesen werden: etwa die Hieroglyphe KNIE als γόνυ / góny, Gen. γόνατος / gónatos und damit als Homonym für Linear A ka-nu-ti = Linear B ko-no-si (Knossos) entsprechend γνοστος / gnostos („der Bekannteste“, „der Berühmte“), die Hieroglyphe KNIE mit dem Silbenzeichen ja als Adjektiv-Suffix entspräche der Lautung gonat-ja = Linear A ka-nu-ti-ja = Linear B ko-no-si-ja = Κνωσία / knossia („die aus Knossos“, „die knossische“). Auch das hieroglyphische Bild eines Hundes (κυον / kyon) oder Wolfes (κνακιας / knakias) könne vielleicht als Verweis auf Knossos gelesen werden, sofern nicht der Wolf für γυναικ- / gynaik- („Frau“) stünde. Schließlich kann die Hieroglyphe SPINNE (αραχνα / arachna) als Linear A/B A-ri-hag-na = griechisch Ariadne gelesen werden [MI e, 48/49]; die kretische Hieroglypheninschrift wa-nwa kann mit Linear A u-na-ka, Linear B wa-na-ka verglichen und in drei Schriften als derselbe Titel („König“) interpretiert werden [MI e, 52]. Ferner entspricht die Schreibweise si-FEIGE-ka (Hieroglyphe FEIGE umgeben von zwei Silbenzeichen) σῦκα / syka, „Feigen“ [MI b, 4].

Die ältesten Zeichen der kretischen Hieroglyphen wurden in Archanes gefunden und datieren in die Phase Mittel-Minoisch I – nach den „hohen“ Chronologien ab 2160/2050/2000 BC, nach den „niedrigen“ Chronologien ab 2000/1979/1900 BCE (konventionell) [MI e, 46]. Damit hätte die griechische Sprache das älteste Schriftsystem aller indo-europäischen Sprachen [MI e, 50], mehrere Jahrhunderte älter als die hethitisch-luwischen Hieroglyphen [MI a, 1].

Spezifische Unterscheidungsprobleme zwischen griechischer Phonetik und der Orthographie von Linear A

Je mehr Wortgleichungen zwischen Linear A und Altgriechisch erkannt werden, desto mehr unerwartete Schreibweisen tauchen auf: u für o oder sogar e, wie in u-na-ru-ka-na-ti/si ≈ ἐναρξάντι/σι / enarxánti/si; i für ē, wie in a-si-ki-ra für ἀσκηρά / askērá; d steht für θ wie in di-ri-na ≈ θρινία / thrinía oder für δ wie in ro-da ≈ Ῥόδια / Rhódia, manchmal steht auch t für θ wie in ki-re-ta2 = Linear B ki-ri-ta = κριθή / krithē; j steht mitunter für h wie in i-ru-ja eluha < ἔλυσα / élysa – aus dem Linear A/B-Silbenzeichen ja /ha/ entstand das phönizische het (allerdings erst ein Jahrtausend nach Linear A – möglicherweise ein Hinweis auf eine unstimmige konventionelle Chronologie!), das zum griechischen Η wurde; q entspricht in Linear B dem labiovelaren qu (vgl. -qe = lat. -que), in Linear A aber nicht selten auch χ wie in a-se-tu-qi ≈ ἀστυ-όχη / astyóchē, qa-ti-ju ≈ *Χαττιοί / (erschlossen) Chattioí < Hatti, Homerisch Κήτειοι / Kēteioi; w steht für ϝ wie in wi-pi ≈ ϝίφι / wiphi oder für das labiovelare gw wie in wa-pi-ti-na(*te)-ra2 auf einem Pithos ≈ βαπτιστήριον / baptistērion < *guap-; z spiegelt z < dj wider wie in ki-re-za ≈ κράδη / krádē oder z < gj wie in ma-za ≈ μᾶζα / mãza oder z < kj wie in du-re-za-se = Linear B de-re-u-ko ≈ δλυκύς / dlykýs oder g wie in a-zu-ra ≈ ἀγορά / agorá; andererseits auch s > g wie in ma-si-du ≈ μαγίδιον / magídion, es gibt also keine allgemeingültigen Regeln [MI a, 6].

Beispiele griechischer Morphologie in Linear A [MI e, 57-59]

Linear A

Griechisch

Deutsch

i-ja-ma

ιαμα / iama

Heilmittel, Medizin

i-ja-te

ιατηρ / iatēr

Heiler, Arzt

a-ki-ro

ἄχρεος / áchreos

unnütz, nutzlos

a-da-ro

ἄδωρα / adōra

unbeschenkt oder ungeschenkt

Suffix -ja

-ία / -ia

feminines Adjektiv-Suffix

si-da-te

σιτευτός / siteutós

gemästet

Präfix a-: a-si-da-to-i

*ἀσιτευτόι / *asiteutói (erschlossen)

ungemästete (pl.)

oder: si-da-te

συνδέτης / syndétēs

einer, der zusammenhält

Präfix a-: a-si-da-to-i

ἀσύνδετοι / asýndetoi

unverbundene (pl.)

oder [MI a, 19]: si-da-te

συνθέτη / synthétē

zusammengesetzt

Präfix a-: a-si-da-to-i

ἀσύνθετοι / asýnthetoi

nicht zusammengesetzte (pl.)


„Diese grammatikalischen Formen indoeuropäischen Ursprungs könnten der stärkste Beweis für die griechische Sprache von Linear A sein, im Gegensatz zu lexikalischen Elementen, die vielleicht entlehnt wurden.“ [MI a, 3; Ü. DeepL]

Grammatik

Auf Grund des beschränkten Korpus an Inschriften sind die verfügbaren Beispiele spärlich, aber offensichtlich gut mit griechischen Formen in Übereinstimmung [MI a, 7-12]:

  1. Morphologie der Nomina:

    1. Die Wortbildungssuffixe -ma und –tēr indoeuropäischen Ursprungs in den Beispielen Linear A i-ja-ma, ιαμα / iama, Heilmittel, Medizin; Linear A i-ja-te = ιατηρ / iatēr, Heiler, Arzt

    2. Das typisch griechische Negationspräfix a-: Linear A a-si-su-po-a, „nicht sehr klar“, vgl. Σίσυφος / Sísyphos, buchstäblich „sehr klug“; Linear A a-su-pu-wa, „(Gefäß) ohne Ausguss“, vgl. συπύη / sypýē, „Essenswanne“, Reine oder Napf; [MI e, 59] hat die Beispiele: Linear A a-ki-ro, ἄχρεος / áchreos, unnütz, nutzlos; Linear A a-da-ro, ἄδωρα / adōra, unbeschenkt oder ungeschenkt

    3. Typisch griechische Suffixe für Nomina Agentis: Linear A ma-ti-za-i-te, *μαστιγ-αίτης / *mastigaítēs, Kutscher; Linear A ma-te-ti, ματευτής / mateutēs, Sucher; Linear A ma-ka-i-ta, äolisch μαχαίτας / machaítas, Kämpfer, Krieger

    4. Präfixe: Linear A a-pa, ἀπο / apo, von … her, von … weg, seit, ab; in einem für mich nicht eindeutigen Beispiel

  1. Deklination der Nomina:

Genitiv sg. m.: (aus Italien) ku-ra-tu-jo, Κρατοῖο / Kratoĩo, Gen. of Κρατύς / Kratýs (wohl ein Name).

Genitiv sg. f.: (auf einer Lampe) i-ja-re-wi-ja, ἰαρηϝίjας / íarēwijas, der Priesterin oder der heiligen Stätte.

Dativ sg. f.: ja-su-ma-tu OLIVE, αἰσυμνητύι / aísymnētýi, Oliven an oder für die αἰσυμνητύς / aísymnētýs (was immer das heißen mag)

Akk. sg. m.: (aus Italien) i-ja, υἷα / yĩa, den Sohn.

Nom. pl. m.: si-da-tea-si-da-to-i, συνθέτη / synthétē – ἀσύνθετοι / asýnthetoi, zusammengesetzt – nicht zusammengesetzte; ebenso ku-re-ju, χορεῖοι / choreĩoi, zum Chor gehörige, Chormitglieder.

Nom. pl. f.: di-ki-se, θίξεις / thixeis, Berührende oder die Berührenden (fem.).

  1. Pronomen:

Pronomen sind in Linear A äußerst selten:

Linear A (auf einer Stecknadel) wi-te-ja-mu, (ϝ)ἴδια μου οἴκετις / (w)ídia mou oíketis, meine eigene Hausfrau (Sklavin?), wörtlich: eigene meiner (Gen. 1. P. sg. f.) [die Form ίδια μου (meine eigene sg. f.) wird auch im Neugriechischen noch genauso benutzt].

Linear A i-da-mi, Linear B –mi, μιν / min, sie (Akk. sg.)

  1. Zahlwörter:

Zahlenwerte werden in Linear A meist durch Zahlen dargestellt, ihre silbische Darstellung ist sehr selten:

Linear A qe/ka-ti-ra-du MANN (vor vier Portionen), τετράς, -άδος / tetrás, -ádos, vier, Phrygisch ke, Katreus.

Linear A qe-pi-ta, ἑπτά / heptá, sieben im Kontext da-qe-ra qe-pi-ta (eine Überschrift über sieben Personennamen), heptá dohelai, sieben Sklavinnen (Linear B do-e-ra).

Linear A qa-sa-ra-ku, *τεσσαράκονς (τεσσαράκοντα / tessarákonta, vierzig) oder *τεσσαρακόhιοι (τεσσαρακόσιοι, vierhundert). Alternativ: exarchos, Führer

  1. Konjugation:

Präsens Indikativ Aktiv 1. P. sg.: ka-ni-ja-mi, ἐξανίημι / exaníēmi, ich sende aus – in Linear B dagegen sind Verben nur in der 3. Person bekannt.


Mosenkis präsentiert [in MI a] noch eine Menge Beispiele der äußerst komplexen altgriechischen Konjugation, Funktionswörter wie die Endung –qe (entsprechend lat. –que), Wortkombinationen und kurze Texte sowie Beispiele für griechische Etymologie, aus der ich nur noch herausgreife: Linear A qe-ra2-u = Linear B e-ra-wo = ἔλαιFον / élaiwon, „Olivenöl“, verglichen mit Linear A qe-ra2-ja = Linear. B e-ra-wa = ἐλαίFα / elaíwa, „Olivenbaum“, sowie schließlich Linear A zu-wa = Linear B di-wo = Zeus!


Viele seiner kleinen Entdeckungen wie die über die minoischen Künstler, kretische Agrarprodukte, Morphologie und Grammatik oder die oben erwähnten Quasi-Bilinguen veröffentlichte Mosenkis zunächst als Notiz in jeweils einem kurzen Word-Dokument auf der Plattform Academia.edu, bevor er seine Erkenntnisse in umfangreicheren Dokumenten zusammentrug: Die Sprache von Linear A ist ein den alten mazedonischen Dialekten ähnliches Griechisch [MI c, passim; MI d, passim]!

Literatur

Colless, Brian (o.J.): Cyprus Scripts – Table of Cyprian Syllabograms; (nicht vor 2013); https://sites.google.com/site/collesseum/cyprusscripts

Georgiew, Wladimir Iwanow (1950): История эгейского мира во ІІ тысячелетии до н. э. в свете минойских надписей (Die Geschichte der ägäischen Welt im 2. Jahrtausend v. Chr. im Lichte der minoischen Inschriften); in: Вестник древней истории , 1950, № 4; http://liberea.gerodot.ru/a_hist/georgiev.htm; zitiert nach MI e, Fn. 64

Gordon, Cyrus Herzl (1957): Notes on Linear A; in: Antiquity 31, 124-130; zitiert nach MI e, Fn. 24

~ (1958): Minoan Linear A; in: JNES 17, 245-255; zitiert nach MI e, Fn. 24

~ (1960): The language of the Hagia Triada Tablets; in: Klio 38, 63-68; zitiert nach MI e, Fn. 24

MI = Mosenkis, Iurii (2016): Hellenic Origin of Europe<; https://www.academia.edu/28866733/Hellenic_origin_of_Europe

~ (o.J. a): Greek language of Linear A (short summary); https://www.academia.edu/37575032/Greek_language_of_Linear_A_short_summary_ (gelesen August 2020)

~ (o.J. b): Minoan Greek hypothesis: A short historiography; https://www.academia.edu/27772316/Minoan_Greek_hypothesis_A_short_historiography (gelesen August 2020)

~ (o.J. c): The Macedonian-like Greek language of Linear A; https://www.academia.edu/12175482/The_Macedonian_like_Greek_language_of_Linear_A (gelesen August 2020)

~ (o.J. d): The Greek Written Language 2000 – 1500 BCE: Linear A; https://www.academia.edu/11302281/THE_GREEK_WRITEN_LANGUAGE_2000_1500_BCE_LINEAR_A (gelesen August 2020)

~ (o.J. e): Pre-Mycenaean Greeks in Crete; https://www.academia.edu/24600947/Pre_Mycenaean_Greeks_in_Crete (gelesen Oktober 2020)

~ weitere kleinere Dokumente und Notizen zum Thema unter academia.edu

Nagy, Gregory (1963): Greek-like elements in Linear A; in: Greek, Roman, and Byzantine Studies (Harvard University Press) vol. 4; zitiert nach MI e, Fn. 77

~ (1965): Observations on the sign-grouping and vocabulary of Linear A; in: American Journal of Archaeology 69, No. 4 (October 1965), 297-298; zitiert nach MI e, Fn. 82

Pope, Maurice (1958): On the language of Linear A; in: Minos 6, 16; https://revistas.usal.es/index.php/0544-3733/article/view/2748/2786

unikiewmi = Автори, співробітники Університету (Autoren, Wissenschaftler der Universität [Kiew]), Eintrag für “Mosenkis Iurii Leonidovych”; http://dsr.univ.kiev.ua/pub/autors/37371/ (in kyrillischer Schrift und ukrainischer Sprache)

wiki = https://de.wikipedia.org/wiki/ ( Stichwort)

wiktionary = https://de.wiktionary.org/wiki/ ( Stichwort)


Karl-Heinz Lewin, Haar: k-h-lewin@t-online.de

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