Komputistik contra Phantomzeitthese

Führt der Computus Paschalis die Phantomzeitthese ad absurdum?

Karl-Heinz Lewin

Auf dem Zeitensprünge-Jahrestreffen in Zürich (05.-08.05.2005) verblüffte Ulrich Voigt nach einer ausführlichen Darstellung der spätantiken Komputistik und ihrer Berechnungen der Osterzyklen die anwesenden Zeitenspringer mit der Aussage, die Übereinstimmung der Berechnungsweise des Dionysius Exiguus (gerechnet in der Ära „ab incarnatione Domini“, „a.i.D“) mit der seit dem Mittelalter benutzten Berechnungsweise (gerechnet in der Ära „nach Christi Geburt“) lasse entweder nur 0 oder 532 ein­ge­scho­be­ne Phantomjahre zu. Da 532 Phantomjahre indiskutabel seien (das Jahr 1000 entspräche dann dem Jahr 468), könne es also keine Phantomzeit gegeben haben. [Voigt 2005a; siehe auch Voigt 2005b im Heft ZS 17 (2)]

Ein fürwahr harter Brocken für Zeitenspringer: Wenn Voigts Behauptung Bestand hat, würde dies erzwingen, die in den letzten 16 Jahren mühsam von fiktiven Karlen, fiktiven Tassilos, verdoppelten Alfonsen, fiktiven Wikingern, zu späten Awaren verdoppelten Madjaren etc. bereinigten Jahrhunderte wieder mit archäologisch nicht nachweisbarer Geschichte füllen zu müssen!

In zwei eingehenden Gesprächen mit Ulrich Voigt erfuhr ich detaillierte Begründungen für seine Aussage:

Daher ist das Jahr 532 a.i.D. (Dionysius Exiguus) == 532 u.Z.4


Ausführliche Beweisführung und kritische Würdigung

Der Autor vollzieht im Folgenden die Argumentation Voigts nach und führt sie so weit detailliert aus, dass mögliche Schlussfolgerungen offensichtlich werden.

Nehmen wir an, bei der Einführung der neuzeitlichen Zeitrechnung durch König Otto III. und Papst Sylvester wären N Phantomjahre eingefügt worden. Dann ergeben sich folgende Probleme:

Beispielsweise ergäben sich bei Einschub von 291 oder 297 Jahren folgende Diskrepanzen bei den Wochentagen des 21. März (zur Berechnung siehe [Voigt 2003, 19 ff.]):6


 N÷28 Rest 11 

 N÷28 Rest 17 

 Jahr alt 

 Tag 

 Jahr neu 

 Tag 

 Jahr alt 

 Tag 

 Jahr neu 

 Tag 

708 

Mi 

999 

Di 

702 

Di 

999 

Di 

709 

Do 

1000 

Do 

703 

Mi 

1000 

Do 

710 

Fr 

1001 

Fr 

704 

Fr 

1001 

Fr 

711 

Sa 

1002 

Sa 

705 

Sa 

1002 

Sa 

Die rot fett-kursiv angezeigten Abweichungen um einen Wochentag würden sich alle vier Jahre wiederholen. Auch kann man von den als Beispiel gewählten Jahres­­zahlen in jeder Spalte jeweils 28 abziehen oder 28 hinzu addieren, ohne dass sich an den übrigen Daten etwas ändert.

Hierbei kommt es nicht darauf an, ob die Jahre der „alten Zählung“ in der angegebenen Zählung oder in einer anderen Ära gezählt wurden.

Der Mondzyklus spielt nun insofern eine Rolle, als er für den frühest möglichen Ostertermin maßgebend ist. Sein Einfluss wird jedoch durch die bis zum jeweils folgenden Sonntag abzuwartenden Wochentage gewisser­maßen etwas nivelliert. Bei einem Einschub von 297 Jahren jedoch passen die Daten des „alten“ Kalenders auf keinen Fall mit denen des „neuen“ überein:


 Jahr alt 

 Ostermond 

 Ostersonntag 

 Jahr neu 

 Ostermond 

 Ostersonntag 

702 

17.4. 

23.4. 

999 

4.4. 

9.4. 

703 

5.4. 

8.4. 

1000 

24.3. 

31.3. 

704 

25.3. 

30.3. 

1001 

12.4. 

13.4. 

705 

13.4. 

19.4. 

1002 

1.4. 

5.4. 

706 

2.4. 

4.4. 

1003 

21.3. 

28.3. 

Der 8.4.1000 ist außerdem ein Montag.

Gehen wir davon aus, dass es auf den genauen Termin des Ostermondes gar nicht ankommt, dass sein berechneter Termin durchaus ein bis drei Tage früher oder später liegen darf, sofern der daraus berechnete Ostertermin in beiden Kalendern übereinstimmt. Vielleicht muss man für den „neuen“ Kalender nur mit neuen Tabellen arbeiten, um den „richtigen“ Ostertermin zu erhalten? Leider lässt sich diese Hoffnung nicht bestätigen. Die besten Über­ein­stimmungen mit den für die neue Jahreszählung wichtigen Jahren liefern die folgenden Jahreszahlen:


 Jahr 

 Ostern 

 Jahr 

 Ostern 

 Jahr 

 Ostern 

 Jahr 

 Ostern 

 999 

 9.4 

 904 

 8.4. 

 635 

 9.4. 

 551 

 9.4. 

 1000 

 31.3. 

 905 

 31.3. 

 636 

 31.3. 

 552 

 31.3. 

 1001 

 13.4. 

 906 

 13.4. 

 637 

 20.4. 

 553 

 20.4. 

 1002 

 5.4. 

 907 

 5.4. 

 638 

 5.4. 

 554 

 5.4. 

 1003 

 28.3. 

 908 

 27.3. 

 639 

 28.3. 

 555 

 28.3. 

 1004 

 16.4. 

 909 

 16.4. 

 640 

 16.4. 

 556 

 16.4. 

 1005 

 1.4. 

 910 

 1.4. 

 641 

 8.4. 

 557 

 1.4. 

Es gibt allerdings noch die Jahre ab 467, deren Daten mit denen der Jahre ab 999 fortlaufend übereinstimmen ...

Dieser Beweisführung liegen Annahmen als Voraussetzungen zu Grunde, die ich im Folgenden diskutieren werde. Ich ordne sie vorab unter die Rubriken „Selbstverständ­liche Voraussetzungen“ und „Diskussionswürdige Annah­men“. Unter erstere subsumiere ich jene Annahmen, die mir persönlich unzweifelhaft erscheinen, die ich dennoch ausdrücklich benennen möchte, um sie der Kritik anheim zu stellen. Die zweite enthält Annahmen, für die hinterfragt wird, ob sie als Tatsachen vorausgesetzt werden dürfen.



Abb.1: Kupferstich des Kalendersteins in Henricus Noris Dissertatio
de latinorum paschali cyclo
1691, entnommen aus [Voigt 2003, 114].7


Selbstverständliche Voraussetzungen

  1. Bei der Einführung der neuzeitlichen Zeitrechnung liefen die Wochentage unverändert durch: Auf einen Montag folgte ein Dienstag etc.

  2. Die Monate und ihre jeweilige Dauer waren bei der Einführung der neuzeitlichen Zeitrechnung bereits fest etabliert: Der 1. Januar im „alten“ Kalender war der 1. Januar im „neuen“ Kalender, usf. bis einschließlich zum 31. Dezember.

  3. Die Einführung der neuen Jahreszählung führte offensichtlich nicht zu erneuten Kontroversen („Osterstreit“) über das Osterdatum.


Diskussionswürdige Annahmen

  1. Die Schaltjahre waren in beiden Ären dieselben.

  1. Der Kalenderstein in Ravenna wurde im 6. Jh. (erste Hälfte) verfertigt.

  1. Auf dem Kalenderstein steht wirklich das, was behauptet wird: ein Osterzyklus, der mit der späteren Osterberechnung übereinstimmt.

Deshalb wende ich mich nun der Prüfung des Kalendersteins (s. Abb.1 und 2) zu.



Abb.2: Kalenderstein („Calendario Liturgico“) im Museo Arcivescovile zu Ravenna
[Foto im Internet gefunden am 19.11.2017, Quelle ist 2023 nicht mehr auffindbar]


Lesung des Kalendersteins


 Sektor 1 

 Sektor 2 

 Sektor 3 

 Sektor 4 

 LU XↅI 

 LU XↅII 

 LU XↅIII 

 LU PRI†MUS 

 AN I LU XIIII NO AP 

 AN II L XIIII ↅII K AP 

 AN III L XIIII ID APR 

 AN IIII L XIIII IIII NO AP 

 PAS III ID AP LU XX 

 PAS VI K AP LU Xↅ 

 PA Xↅ K MI LU XↅI 

 PA VI ID AP LU XX 

 CY II PAS 

 CY II PAS 

 CY II PAS 

 CY II PAS 

 V ID AP LU   XVIII 

 PD K AP LU XX 

 XII K MI L XXI 

 NO AP LU XↅI 

 CY III PAS 

 CY III PAS 

 CY III PAS 

 CY III PAS 

 ↅII ID AP 

 IIII K APR 

 XV K MI 

 V ID APR 

 LU XV 

 LU XↅII 

 LU XↅII 

 LU XXI 

 CY IIII PA 

 CY IIII PA 

 CY IIII PA 

 CY IIII PA 

 IIII ID AP 

 ↅI K AP 

 XↅI K MI 

 ↅII ID AP 

 LU XↅIII 

 LU XV 

 LU Xↅ 

 LU XↅII 

 CY V PA 

 CY V PA 

 CY V PA 

 CY V PA 

 ↅI ID AP 

 III K AP 

 XIII K MI 

 PD N AP 

 L Xↅ 

 L XↅIII 

 L XX 

 L Xↅ 

 CM 

 CM 

 EB 

 CM 


 Sektor 5 

 Sektor 6 

 Sektor 7 

 Sektor 8 

 LU II 

 LU III 

 LU IIII 

 LU V 

 AN V L XIIII XI K AP 

 AN VI L XIIII IIII ID AP 

 AN ↅI L XIIII III K AP 

 AN ↅII L XIIII XIIII K MI 

 PA X K AP LU XV 

 PA PR ID AP LU Xↅ 

 PA PD NO AP L XↅIII 

 PA ↅII K MI LU XX 

 CY II PAS 

 CY II PAS 

 CY II PAS 

 CY II PAS 

 V K AP LU XX 

 Xↅ K MI LU XX 

 K AP LU Xↅ 

 XI K MI LU XↅI 

 CY III PAS 

 CY III PAS 

 CY III PAS 

 CY III PAS 

 VIII K APR 

 XↅII K MI 

 NO APR 

 VII K MI 

 LU XVII 

 LU XↅII 

 LU XX 

 LU XXI 

 CY IIII PA 

 CY IIII PA 

 CY IIII PA 

 CY IIII PA 

 IIII K AP 

 III ID APR 

 III NO AP 

 X K MI 

 LU XXI 

 LU XV 

 LU XↅII 

 LU XↅII 

 CY V PA 

 CY V PA 

 CY V PA 

 CY V PA 

 ↅI K AP 

 XↅI K MI 

 PD K AP 

 XII K MI 

 L XↅII 

 L XↅIII 

 L XV 

 L Xↅ 

 CM 

 EB 

 CM 

 EB 


 Sektor 9 

 Sektor 10 

 Sektor 11 

 Sektor 12 

 LU ↅ 

 LU ↅI 

 LU ↅII 

 LU ↅIII 

 AN ↅIII L XIIII ↅI ID AP 

 AN X L XIIII VI K AP 

 AN XI L XIIII XↅI K MI 

 AN XII L XIIII PD NO AP 

 PA ↅ ID AP LU XV 

 PA PD K AP LU XↅII 

 PA XII K MI LU XↅIII 

 PA NO AP LU XV 

 CY II PAS 

 CY II PAS 

 CY II PAS 

 CY II PAS 

 ID AP LU XX 

 V K AP LU XV 

 XV K MI LU Xↅ 

 V ID AP L XↅIII 

 CY III PAS 

 CY III PAS 

 CY III PAS 

 CY III PAS 

 IIII ID APR 

 IIII NO AP 

 XI K MI 

 ↅII ID APR 

 LU XↅI 

 LU XX 

 LU XX 

 LU XↅI 

 CY IIII PA 

 CY IIII PA 

 CY IIII PA 

 CY IIII PA 

 XↅII K MI 

 III K AP 

 XIII K MI 

 IIII ID AP 

 LU XXI 

 LU XↅI 

 LU XↅII 

 LU XX 

 CY V PA 

 CY V PA 

 CY V PA 

 CY V PA 

 III ID AP 

 III N AP 

 Xↅ K MI 

 ↅ ID AP 

 L XↅIII 

 LU XXI 

 L XV 

 L XↅII 

 CM 

 CM 

 EB 

 CM 


 Sektor 13 

 Sektor 14 

 Sektor 15 

 Sektor 16 

 LU X 

 LU XI 

 LU XII 

 LU XIII 

 AN XIII L XIIII ↅIII K AP 

 AN XIIII L XIIII PD ID AP 

 AN XV L XIIII K AP 

 AN Xↅ L XIIII XII K AP 

 PA ↅ K AP LU XↅI 

 PA Xↅ K MI LU XↅII 

 PA VI ID AP LU XXI 

 PA VIIII K AP L XↅI 

 CY II PAS 

 CY II PAS 

 CY II PAS 

 CY II PAS 

 VIII K AP LU XV 

 ID AP LU XV 

 NO AP LU XↅII 

 V K AP LU XXI 

 CY III PAS 

 CY III PAS 

 CY III PAS 

 CY III PAS 

 IIII K APR 

 XIIII K MI 

 IIII NO APR 

 ↅII K APR 

 LUXↅIII 

 LU XX 

 LU XV 

 LU XↅII 

 CY IIII PA 

 CY IIII PA 

 CY IIII PA 

 CY IIII PA 

 ↅI K AP 

 XↅI K MI 

 ↅI ID AP 

 XI K AP 

 LU Xↅ 

 LU XↅI 

 LU XX 

 LU XV 

 CY V PA 

 CY V PA 

 CY V PA 

 CY V PA 

 III K AP 

 XIII K MI 

 PD N AP 

ↅ  K AP 

 L XX 

 L XXI 

 L XↅI 

 L XX 

 CM 

 EB 

 CM 

 CM 


 Sektor 17 

 Sektor 18 

 Sektor 19 

 LU XIIII 

 LU XV 

 LU Xↅ 

 AN XↅI L XIIII V ID AP 

 AN XↅII L XIIII IIII K AP 

 AN XↅIII L XIIII XV K MI 

 PA PD ID AP LU XↅI 

 PA PD NO AP LU XX 

 PA ↅII K MI LU XXI 

 CY II PAS 

 CY II PAS 

 CY II PAS 

 IIII ID AP L XV 

 K AP LU XↅI 

 XI K MI LU XↅII 

 CY III PAS 

 CY III PAS 

 CY III PAS 

 XↅII K MI 

 III K APR 

 XIIII K MI 

 LU XↅIII 

 LU XV 

 LU XV 

 CY IIII PA 

 CY IIII PA 

 CY IIII PA 

 III ID AP 

 III NO AP 

 ↅIII K MI 

 LU Xↅ 

 LU XↅIII 

 LU XX 

 CY V PA 

 CY V PA 

 CY V PA 

 XↅI K MI 

 PD K AP 

 XII K MI 

 L XX 

 L Xↅ 

 L XↅI 

 EB 

 CM 

 EB 

Die Lesung wurde sektor- und zeilenweise zunächst mangels Vorlage einer vollständigen Abbildung des Originals dem Kupferstich in Dissertatio de latinorum paschali cyclo [Noris, zitiert nach Voigt 2003] entnommen (Abb. 1), ein Vergleich mit dem in [Voigt 2003, 113] abgebildeten Ausschnitt des Kalendersteins, der immerhin drei Sektoren vollständig und zwei weitere Sektoren annähernd zur Hälfte zeigt, ergab keine Abweichungen. Die Daten konnte ich 2006 in Ravenna persönlich nach Augenschein überprüfen.

Die Lesung beginnt mit dem mit einem kleinen Kreuz markierten Sektor als Sektor 1, auf den im Original auch das große Kreuz in der Mitte verweist.

Auffällig ist die Verwendung des Zahlzeichens ↅ (Unicode-Zeichen U+2185, spätrömische Sechs, wohl aus dem griechischen Buchstaben und Zahlzeichen Digamma, Stigma oder Episemon entstanden) an Stelle von „VI“, „Xↅ“ statt „XVI“, „XↅI“ statt „XVII“ etc. (allerdings nur überwiegend, nicht durchgängig, wie die „XVIII“ in Sektor 1, Zeile 5 zeigt). Pridie, der Vortag, wird einmal als PR (Sektor 6, Zeile 3) geschrieben, sonst als PD (vgl. Sektor 7, gleich daneben).



Abb.3: Kalenderstein,
Ausschnitt aus Sektor
12 [Foto KHL 2006]







Abb.4: Kalenderstein,
Ausschnitt aus Sektor
10 [Foto KHL 2006]


Abb.5: Kalenderstein,
Ausschnitt aus
Sektor 16 [KHL 2006]

Die Interpretation vorwegnehmend sei festgestellt, dass der oben mit gelbem Hintergrund unterlegte Eintrag in Sektor 12, Zyklus 3 (vgl. Abb. 3) fehlerhaft ist. Entsprechend dem Julianischen Kalender muss es entweder „ↅII ID APR LU Xↅ“ (6.4. Mond 16) oder „ↅI ID APR LU XↅI“ (7.4. Mond 17) heißen. In Sektor 10, Zyklus 5 (oben mit Cyan unterlegt) ist das „I“ von „LU XXI“ (3.4. Mond 21) auf dem Stein nur schwach zu erkennen – anscheinend eine Korrektur (vgl. Abb. 4) – und fehlt wohl deshalb in dem Kupferstich. Da es keine systematischen Fehler sind und die Osterdaten sich als konsistent erweisen werden, gehe ich davon aus, dass es sich im ersten Fall um einen „Druckfehler“ des Steinmetzen bei der Angabe des Mondtages (zur Bedeutung siehe unten) handelt, im zweiten Fall um einen „Lesefehler“ des Kupferstechers, so wie auch die Schreibweise „CII“ an Stelle des gemeinten „ↅII“ in Zeile 7 von Sektor 16, wobei der Haken des „ↅ“ auf dem Stein (Abb. 5) nur als arg kurzes Häkchen erkennbar ist.


Interpretation des Kalendersteins

In den 19 Sektoren sind jeweils folgende Angaben zu finden:

Überschrift (nur Sektor 9): Die Bedeutung des „DIVISIO CYCLI II“ an dieser Stelle ist mir unklar.

Zeile 1: Mondjahr des 19-jährigen Mondzyklus. Der Zyklus beginnt mit dem Mondjahr 17; dies entspricht einer byzantinischen Zählung [Voigt, persönliche Mitteilung], die Zahl hat aber für die weitere Interpretation keine Bedeutung.

Zeile 2: Jahresnummer des ersten 19-Jahre-Zyklus im 95-Jahre-Zyklus und Datum des Ostervollmonds (Luna 14). Die Jahresnummer ist gleichzeitig die „Goldene Zahl“ (= Jahreszahl mod 19 + 1). Das „Jahr 1“ (AN I) repräsentiert daher das Julianische Jahr in der benutzten Ära modulo 532 + 1, kann also das Jahr 532 der „Ära Christi“ bedeuten, wie Noris schreibt (s. Abb. 1), oder das Jahr 0 (!), das hieße das Jahr 1 vor Beginn der Ära (1 v. Chr.), oder auch die Jahre 1064, 1596 ...

Der Ostervollmond ist der berechnete Frühlingsvollmond.9 Sein Datum wiederholt sich alle 19 Jahre, gilt also jeweils für den gesamten Sektor.

Zeile 3: Osterdatum und Mondtag von Ostern (im ersten 19-Jahre-Zyklus). Der Mondtag ist die laufende Tagesnummer im Mondmonat.

Zeilen 4 und 5: Osterdatum und Mondtag von Ostern im 2. 19-Jahre-Zyklus.

Zeilen 6 bis 8: Osterdatum und Mondtag von Ostern im 3. 19-Jahre-Zyklus.

Zeilen 9 bis 11: Osterdatum und Mondtag von Ostern im 4. 19-Jahre-Zyklus.

Zeilen 12 bis 14: Osterdatum und Mondtag von Ostern im 5. 19-Jahre-Zyklus.

Zeile 15: Angabe, ob das betreffende Mondjahr ein Schaltjahr („EB“ für „annus embolismalis“, ein Jahr mit 13 Mondmonaten.) oder ein normales Jahr („CM“ für „anno communis“, ein Jahr mit 12 Mond­monaten) ist. (Dies hat nichts mit den Julianischen Schaltjahren – Sonnenjahren – zu tun).


Umrechnung auf moderne Tagesdaten

Zur Umrechnung der Daten verwende ich für den relevanten Zeitabschnitt folgende kleine Tabelle, um nicht alle Feinheiten der Kalendenrechnung kennen zu müssen:


 Modern 

 Antik 

 Modern 

 Antik 

 21. März 

 XII Kalendae Aprilis 

 8. April 

 VI Idus Aprilis 

 22. März 

 XI Kalendae Aprilis 

 9. April 

 V Idus Aprilis 

 23. März 

 X Kalendae Aprilis 

 10. April 

 IIII Idus Aprilis 

 24. März 

 IX Kalendae Aprilis 

 11. April 

 III Idus Aprilis 

 25. März 

 VIII Kalendae Aprilis 

 12. April 

 Pridie Idus Aprilis 

 26. März 

 VII Kalendae Aprilis 

 13. April 

 Idus Aprilis 

 27. März 

 VI Kalendae Aprilis 

 14. April 

 XVIII Kalendae Maii 

 28. März 

 V Kalendae Aprilis 

 15. April 

 XVII Kalendae Maii 

 29. März 

 IIII Kalendae Aprilis 

 16. April 

 XVI Kalendae Maii 

 30. März 

 III Kalendae Aprilis 

 17. April 

 XV Kalendae Maii 

 31. März 

 Pridie Kalendae Aprilis 

 18. April 

 XIIII Kalendae Maii 

 1. April 

 Kalendae Aprilis 

 19. April 

 XIII Kalendae Maii 

 2. April 

 IIII Nonae Aprilis 

 20. April 

 XII Kalendae Maii 

 3. April 

 III Nonae Aprilis 

 21. April 

 XI Kalendae Maii 

 4. April 

 Pridie Nonae Aprilis 

 22. April 

 X Kalendae Maii 

 5. April 

 Nonae Aprilis 

 23. April 

 IX Kalendae Maii 

 6. April 

 VIII Idus Aprilis 

 24. April 

 VIII Kalendae Maii 

 7. April 

 VII Idus Aprilis 

 25. April 

 VII Kalendae Maii 

Damit erhalten wir die folgende Tabelle, deren Zeilen den Sektoren des Kalendersteins entsprechen:

 Mondjahr  

 Jahr 

 Ostermond 

 1. Zyklus 

 2. Zyklus 

 3. Zyklus  

 4. Zyklus 

 5. Zyklus 

 17 

 1 

 5.4. 

 11.4. 

 20 

 9.4. 

 18 

 6.4. 

 15 

 10.4. 

 19 

 7.4. 

 16 

 18 

 2 

 25.3. 

 27.3 

 16 

 31.3. 

 20 

 29.3. 

 18 

 26.3. 

 15 

 30.3. 

 19 

 19  

 3 (S) 

 13.4. 

 16.4. 

 17 

 20.4 

 21 

 17.4. 

 18 

 15.4. 

 16 

 19.4. 

 20 

 1 

 4 

 2.4. 

 8.4. 

 20 

 5.4. 

 17 

 9.4. 

 21 

 6.4. 

 18 

 4.4. 

 16 

 2 

 5 

 22.3. 

 23.3. 

 15 

 28.3. 

 20 

 25.3. 

 17 

 29.3. 

 21 

 26.3. 

 18 

 3  

 6 (S) 

 10.4. 

 12.4. 

 16 

 16.4. 

 20 

 14.4. 

 18 

 11.4. 

 15 

 15.4. 

 19 

 4 

 7 

 30.3. 

 4.4. 

 19 

 1.4. 

 16 

 5.4. 

 20 

 3.4. 

 18 

 31.3. 

 15 

 5  

 8 (S) 

 18.4. 

 24.4. 

 20 

 21.4. 

 17 

 25.4. 

 21 

 22.4. 

 18 

 20.4. 

 16 

 6 

 9 

 7.4. 

 8.4. 

 15 

 13.4. 

 20 

 10.4. 

 17 

 14.4. 

 21 

 11.4. 

 18 

 7 

 10 

 27.3. 

 31.3. 

 18 

 28.3. 

 15 

 2.4. 

 20 

 30.3. 

 17 

 3.4. 

 21 

 8  

 11 (S) 

 15.4. 

 20.4. 

 19 

 17.4. 

 16 

 21.4. 

 20 

 19.4. 

 18 

 16.4. 

 15 

 9 

 12 

 4.4. 

 5.4. 

 15 

 9.4. 

 19 

 6.4. 

17/16 

 10.4. 

 20 

 8.4. 

 18 

 10 

 13 

 24.3. 

 27.3. 

 17 

 25.3. 

 15 

 29.3. 

 19 

 26.3. 

 16 

 30.3. 

 20 

 11 

 14 (S) 

 12.4. 

 16.4. 

 18 

 13.4. 

 15 

 18.4. 

 20 

 15.4. 

 17 

 19.4. 

 21 

 12 

 15 

 1.4. 

 8.4. 

 21 

 5.4. 

 18 

 2.4. 

 15 

 7.4. 

 20 

 4.4. 

 17 

 13 

 16 

 21.3. 

 24.3. 

 17 

 28.3. 

 21 

 25.3. 

 18 

 22.3. 

 15 

 27.3. 

 20 

 14  

 17 (S) 

 9.4. 

 12.4. 

 17 

 10.4. 

 15 

 14.4. 

 19 

 11.4. 

 16 

 15.4. 

 20 

 15 

 18 

 29.3. 

 4.4. 

 20 

 1.4. 

 17 

 30.3. 

 15 

 3.4. 

 19 

 31.3. 

 16 

 16  

 19 (S) 

 17.4. 

 24.4. 

 21 

 21.4. 

 18 

 18.4. 

 15 

 23.4. 

 20 

 20.4. 

 17

Die Angabe des Mondschaltjahrs wurde aus der letzten Zeile des Originals als „(S)“ in die zweite Spalte übernommen.

Für die fünf Zyklen sind jeweils das Oster­datum und der Mondtag aufgelistet. Der Eintrag mit zwei Werten für die Mondtage (17/16 im Jahr 12 des 3. Zyklus) zeigt zuerst den vom Kalenderstein übernommenen fehlerhaften Wert und nach dem Schrägstrich den korrekten (vgl. Abb. 3 und die Feststellung dazu oben).


Überprüfung der Daten

„Im Mondzyklus sind der Tradition genmäß [sic!] das 3., 6., 8., 11., 14., 17. und 19. Jahr Schaltjahre und haben je 13 Mondmonate“ [Metz]. Die genannte (alexandrinische) Tradition zählte die Mondjahre also genauso wie die dionysische AN(no)-Zählung und nicht nach der byzantinischen LU(na)-Zählung.

Das Datum des Ostermonds berechnet sich einfach aus der Goldenen Zahl (=Jahr in Spalte 2):

OM = 21 + GZ; wenn OM <= 31, dann ist OM das Datum im März, sonst ist OM − 31 das Datum im April.

Die Berechnung des Osterdatums ist ein wenig aufwändiger. [Voigt 2003] gibt ausführliche Anleitung, wie das Osterdatum im Kopf (!) errechnet werden kann. Ich bin jedoch Mathematiker und vermeide deshalb das Rechnen, so weit es geht. Überdies überlasse ich als Softwareentwickler das Rechnen lieber den Maschinen und habe deshalb Voigts Formeln in ein Tabellen­kalkulationsprogramm übertragen, das damit alle Osterdaten der obigen Tabelle bestätigte.

Um sicher zu gehen, dass dies die korrekte Berechnung ist, habe ich zwei weitere Tabellenkalkulationen mit den von [Knuth] und der [wikipedia] (Stichwort „Osterdatum“) beschriebenen Algorithmen durchgeführt, mit über­ein­stim­men­dem Ergebnis: Die Osterdaten des Kalendersteins sind korrekt und stimmen mit unserer Zeitrechnung genau dann überein, wenn das 1. Jahr auf diesem Stein (AN I) das Jahr 0 oder 532 oder ein anderes Vielfaches von 532 ist.

Der Algorithmus aus der Wikipedia (von 2004-06-24 und 2005-12-20) war der kürzeste und eignet sich bestens sowohl für programmierbare Taschenrechner als auch für Tabellen­kalku­la­tions­­pro­gram­me. Hier die Variante für die Tabellenkalkulation (mit Korrektur von 2024-02-28) :

A1:

Eingabefeld für die Ausgangsjahreszahl − 1

A2: =A1+1

die Jahreszahl

B2: =MOD(A2;19)

das ist die GZ − 1 („Silberzahl“ [Voigt 2003])

C2: =MOD((19*B2+15);30)

D2: =MOD((A2+INT(A2/4)+C2);7)

E2: =C2−D2

10

G2: =3+INT((E2+40)/44)

Ostermonat (deshalb eine Spalte übersprungen)

F2: =E2+28-31*INT(G2/4)

Ostertag (wieder eine Spalte zurück)

Wer es selbst nachprüfen will, sollte die Zeile 2 in die Zeilen 3 bis 97 kopieren und in A1 die Zahl 531 eintragen; dann erscheinen in den Spalten E und F sämtliche Osterdaten aus der obigen Tabelle.


Schlussfolgerung

Die Behauptung Voigts kann anhand der Daten auf dem Kalenderstein nicht widerlegt werden. Wenn dieser Stein tatsächlich im 6. Jahrhundert angefertigt wurde, dann ist das auf ihm dargestellte Jahr 1 (AN I) erstens ein Jahr im 6. Jahrhundert und zweitens gleich dem Jahr 532 unserer Zeitrechnung.

Anders sähe es nur aus, wenn nachgewiesen werden könnte, dass dieser Stein aus dem 11. Jahrhundert stammt. (Dann nämlich wäre AN I = 1064.) Das jedoch kann meine Aufgabe leider nicht sein.

Der Beweis bleibt allerdings ein mathematischer. Historisch betrachtet ist er ein starkes Indiz gegen> eine PhantomzeitIndizien für eine Phantomzeit, wie sie in dieser Zeitschrift („Zeitensprünge“) und weiteren Veröffentlichungen der hier schreibenden Autoren aufgezeigt wurden. Ich selbst kann nach Studien zu Trier, der Heimatstadt meiner Schul­zeit, nachweisen, dass in Trier während der Phantomzeit weder gebaut noch beerdigt (und daher auch nicht gelebt) wurde, und werde darüber berichten.

Wie aber fundleere Zeiten mit der mathematisch korrekten Annahme einer durchgehenden Jahreszählung seit der Antike zusammen passen, bleibt vorerst ein Rätsel.



Fußnoten

1   Der astronomische Mond schwankt dem gegenüber in Folge der Unregel­mäßig­keiten der Mondbahn um ±1 bis max. ±2 Tage. Außerdem braucht der astronomische Mond geringfügig länger für eine Erdumrundung. Dieser Fehler wurde erst mit der Gregorianischen Kalenderreform korrigiert.

2   Das gilt ebenso für alle anderen Mondphasen.

3   Im Laufe eines 532-Jahre-Zyklus kann der Ostersonntag bis zu 20mal auf dasselbe Datum fallen [Bär, Osterstatistik]. Dass jedoch vier auf einander folgende Ostersonntage (im Julianischen Kalender) auf das jeweils selbe Datum fallen, geschieht nur alle 532 Jahre.

4   Voigt bezeichnet die von Dionysius Exiguus eingeführte Ära mit „AD“ [Voigt 2003 und Voigt 2005b passim]. Diese ist zu unterscheiden von der seit dem Mittel­alter und insbesondere in der englischsprachigen Literatur gebräuchlichen gleichen Bezeichnung „AD“ für die Ära „n. Chr.“, zumindest so lange bis die Identität beider Ären nachgewiesen ist.

5   Warum bei anderen Resten noch weniger Übereinstimmungen erzielt werden können, kann der Tabelle in [Voigt 2000, 299] entnommen werden.

6   formelhaft: W={"So", "Mo", "Di", "Mi", "Do", "Fr", "Sa"}; w(J) = W[(J+J÷4) mod 7] = W[5×J÷4 mod 7], wobei J die Jahreszahl zwischen 1 und 1582 bezeichnet, und ÷ für die Ganzzahldivision steht, die den Rest ignoriert, mod für den Modulo-Operator, der den Divisionsrest der Ganzzahldivision liefert; X mod Y ist definiert als X − (X÷Y) × Y).

7   Voigt weist auf die gegenüber dem Original veränderte Ausrichtung des Kreises und des inneren Kreuzes hin.

8   Voigt schreibt die Monatsnamen in Julianischen Daten mit kleinen Anfangs­buchstaben, um sie von Gregorianischen Daten zu unterscheiden.

9   Der astronomische Frühlingsvollmond kann dem gegenüber um ±1 bis 2 Tage schwanken und kommt in Folge der Ungenauigkeit der Berechnung im Laufe der Jahrhunderte immer später. Dieser Fehler wurde erst mit der Gregorianischen Kalenderreform korrigiert.

10   E2 kann negativ werden. Deshalb blieb den antiken und mittelalterlichen Komputisten dieser einfache Algorithmus versagt.



Literatur

Bär, Nikolaus A.: Osterstatistik; http://www.nabkal.de/osterstatistiik.html

Knuth, Donald (1962): The Calculation of Easter; Communications of the ACM (CACM) Vol. 5 (4) 209

Lewin, Karl-Heinz (2005): Komputistik contra Phantomzeitthese. Führt der Computus Paschalis die Phantomzeitthese ad absurdum?; ZS 17 (2) 455-464; (22023): https://com-pas.de/computuspaschalis/1cyclopaschalisravenna.de.htm

Metz, Herbert (o.J.): Die Ostertafel aus dem Codex Zwettl. 255, Bl. 7V; http://www.computus.de/menton/osterkal.htm

Noris, Henricus (1691): Dissertatio de paschali latinorum cyclo, Ravenna (zitiert aus Voigt, 2003)

Voigt, Ulrich (2000): Zeitensprünge und Kalenderrechnung; ZS 12 (2) 206

Voigt, Ulrich (2003): Das Jahr im Kopf, Beiträge zur Mnemotechnik, Band 2; Likanas; Hamburg

Voigt, Ulrich (2005a): Thesen zur spätantiken Komputistik; Thesenpapier zum Zeitensprünge-Jahrestreffen in Zürich

Voigt, Ulrich (2005b): Über die christliche Jahreszählung, ZS 17 (2) 420-454

wikipedia (2005): Stichworte „Komputistik“ und „Osterdatum“; https://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Hauptseite

ZS = Zeitensprünge („Zeitensprünge“) – Interdisziplinäres Bulletin; Mantis Verlag Dr. Heribert Illig, Gräfelfing; http://www.zeitensprünge.de/?page_id=572


Der Autor ist Mathematiker und arbeitete als Software-Entwickler.

Karl-Heinz Lewin, Haar: Karl-Heinz.Lewin@t-online.de

Copyright © Karl-Heinz Lewin, 2005, 2023

Zuerst publiziert in: Zeitensprünge 17 (2) 455-464

Copyright © Mantis Verlag Dr. Heribert Illig, 2005